Geschichte der Kirche

Die St. Rassokirche ist, wie es der Dießener Chorherr Antonius Riedl 1707 treffend ausdrückt, das „allererste und öltiste GraffRath“. Die Kirche besitzt eine in ihrer Art einmalige Stiftungsurkunde, nämlich das frühmittelalterliche, aus Tuffsteinen zusammengesetzte Grab des Kirchenstifters und seine 1468 aus dem Grab entnommenen und seit 1759 in einem Glasschrein allen sichtbar auf dem Hochaltar ruhenden Gebeine. Graf Rath, später auch Rasso genannt, war nach der Andechser Überlieferung im 9. Jahrhundert Amtsträger des Frankenkönigs im Ammersee-Amper-Gebiet und errichtete als solcher auf der früher „Wörth“ genannten Insel zwischen Amper und Ampermoos die erste Kirche zusammen mit einem Benediktinerkloster. Wie es damals bei Kirchenstiftern üblich war, sammelte er für seine Kirche im Heiligen Land und in Rom wertvolle Heiligenreliquien, um der Kirche einen gewissen Rang zu verleihen und nach dem Tod möglichst nahe bei Reliquien bestattet zu werden. Für die von dem Chronisten Albert von Dießen  rund fünfhundert Jahre später behauptete Weihe der Kirche durch Bischof Ulrich von Augsburg (923-973) gibt es in den Augsburger Quellen keinen Beleg, ebenso wenig wie für die häufig angeführte Gründungszeit kurz vor  954. Man muss vielmehr nach den ältesten Andechser Quellen davon ausgehen, dass das Kloster und die Kirche bereits in der Karolingerzeit errichtet wurden und die Kirchenstiftung und der Tod des Kirchenstifters eher hundert Jahre früher, also etwa 854, anzusetzen sind.

Anfang des 12. Jahrhunderts wurde das Kloster von Grafrath nach Dießen verlegt und die Reliquien nach Andechs gebracht. Die Rechte und Würden, die die Kirche bis dahin besaß, übertrug Papst Innozenz II. 1132 dem Nachfolgekloster in Dießen. Damit war die Kirche zu einer bloßen Kapelle herabgestuft. Sie wurde aber wegen des in ihr verbliebenen Stiftergrabes nicht wie sonst üblich dem Verfall preisgegeben. Dazu kam, dass viele Menschen offensichtlich die Kirche weiter aufsuchten, denn der in der Kirche begrabene Graf wurde bald als Heiliger verehrt und sein Grab als Wunderstätte gepriesen, so dass schon im Mittelalter die Kirche nach dem in ihr begrabenen Mann „St. Grafrath“ genannt wurde. Der Kirchenstifter Graf Rath, der die Kirche ursprünglich dem Erlöser (St. Salvator) und den Aposteln Philippus und Jakobus (Fest früher am 1. Mai, heute am 3. Mai) geweiht hatte, wurde mit der Zeit selber der Kirchenpatron, und zumindest seit dem 16. Jahrhundert ist bezeugt, dass seine Statue auf dem Hochaltar zwischen denen der Apostel Philippus und Jakobus stand.

Bei dem großen Interesse an dem Grab und dem darin bestatteten Mann ließ Propst Johannes Schön von Dießen am 3. Juli 1468 das Grab öffnen und die Gebeine entnehmen, auf den Steinplatten des Bodengrabes ein Hochgrab aufmauern und in diesem Grab über der Erde die Gebeine wieder beisetzen. Außerdem ließ er anstelle der alten, etwas primitiv erscheinenden Deckplatte eine neue aus Rotmarmor anfertigen, die heute noch erhalten ist. Im Jahre 1593 ließen die Chorherren  die Kirche verlängern und dabei die kleine Chorkapelle zu einer geräumigen Sakristei mit einem darüber befindlichen Psallierchor ausbauen. Um diese Zeit kam wohl auch auf der Südseite des Chores der etwa 30 m hohe Kirchturm mit zwiebelförmigem Dachabschluss hinzu. Von dieser Kirche fertigte der Chorherr Antonius Riedl eine Zeichnung und eine genaue Beschreibung an, ehe sie in Zusammenhang mit dem  Bau der heutigen Kirche abgerissen wurde.

Bau und Ausstattung der bestehenden Kirche

In Anbetracht der vielen Wallfahrer  beschlossen die Dießener Chorherren 1688 eine völlig neue und größere Kirche zu bauen. Die Ausführung übertrugen sie dem bekannten Vorarlberger Baumeister Michael Thumb, der in Dießen gerade neue Klostergebäude errichtete. Vorgegeben war, dass das Grab des Kirchenstifters weiter den Mittelpunkt der Kirche bilden musste. Obwohl geplant war, die Gebeine in der neuen Kirche auf den Hochaltar zu erheben, wurde deshalb nur das Hochgrab abgetragen, die Grabstätte aber nicht beseitigt, sondern die Grabplatte an der gleichen Stelle innerhalb des vorhandenen frühbarocken Schutzgitters auf den Boden gelegt. Thumb legte  die Kirche nach dem von ihm entwickelten „Vorarlberger Münsterschema“ an. Von außen erscheint die Kirche als rechteckiger Bau, der auf der Nord- und Südseite durch zwei querschiffartige Anbauten mit Zwerchgiebeln erweitert und auf der Ostseite durch eine halbrunde Apsis abgeschlossen ist. Diese drei Seiten sind durch Pilaster und ein ausgeprägtes Dachgesims deutlich gegliedert. Die zum Moos hin schauende Westseite dagegen ist schmucklos. Auf das Dach ist hier ein kleiner Dachreiter aufgesetzt, ursprünglich mit Zwiebelhaube, nach der Zerstörung durch ein Unwetter 1746 mit einem pyramidenförmigen Abschluss wieder aufgebaut. Noch während der Bauzeit starb Michael Thumb (1690). Sein Bauführer Michael Natter übernahm die Fertigstellung des Baus, so dass die Kirche am 17. Juli 1695 vom Augsburger Weihbischof Eustachius von Westernach feierlich eingeweiht werden konnte. Zusammen mit der Kirche wurde zwischen ihr und dem zehn Jahre zuvor errichteten Kaplanshaus (heute Kloster genannt) ein über neun Bögen führender Verbindungsgang errichtet. Die Wirkung dieses einmaligen Bauensembles erfuhr im letzten Jahrhundert durch die Durchführung der Bundesstraße 471 eine nicht wieder gut zu machenden Beeinträchtigung.

.St. Rassokirche in Grafrath

Im Innern der Kirche sind aus der Barockzeit nur noch einzelne Teile erhalten, so die Aufbauten der vier Seitenaltäre, der von der Stadt München gestiftete, große Kerzenleuchter über dem Grab, die Beichtstühle, der Orgelprospekt und die kunstvollen Eisengitter am Grab und unter der Empore. Im Übrigen wurde das Innere ab 1752 im Rokokostil umgestaltet. Die Gurtbögen und der schwere barocke Stuck wurden herausgeschlagen, die 15 kleinflächigen Bilder übertüncht. So hatte der bekannte Augsburger Akademiedirektor Johann Georg Bergmüller die ganze Decke des Kirchenschiffs und des Chores für seine großflächige Darstellung des Lebens und der Verherrlichung des hl. Rasso zur Verfügung. Am unteren rechten Rand des mittleren Deckenfreskos offenbart er sich als Schöpfer des Bildes und gibt in der als Chronogramm gestalteten Inschrift das Jahr 1753 als Entstehungsjahr an. Die Stuckaturen an der Decke, in den Stichkappen und au den Wänden stammen von den Wessobrunnern Johann Georg Üblher (hauptsächlich Chor) und Johann Michael Feichtmayr (Schiff). Einige Jahre später (1759) gab die Stadt München auch einen neuen Hochaltar in Auftrag, der von den bekannten Münchner Bildhauern  Johann Baptist Straub und Ignaz Günther entworfen und ausgeführt wurde. Sie gestalteten den Altar als Grabdenkmal für „S. Graf Rath“ (so die von Straub in seinem Entwurf vorgeschlagene Aufschrift auf der Grabstele)  bzw. für „S. RASSO DUX BAVARIAE“ („Hl. Rasso Herzog von Bayern“ – so die von Günther im Anschluss an die älteste Chronik von Andechs vorgeschlagene und ausgeführte Aufschrift). Nicht nur der Hochaltar, sondern schon früher und auch noch später wurden Baumaßnahmen, zusätzliche Ausstattung und Reparaturen der Kirche zu einem beträchtlichen Teil durch die seit „unvordenklichen Zeiten“ bestehende „Grafrather Kerzenstiftung der Stadt München“ finanziert.

Von 2001 bis 2004 wurde der Innenraum der Kirche einer neu konzipierten Restaurierung unterzogen. Es wurden keine neuen Farben aufgetragen, sondern nur spätere Anstriche weggenommen und so weit wie möglich der Zustand von 1753/59 wieder hergestellt. So repräsentiert die Kirche heute originär das Beispiel einer Kirche aus der Barock- und Rokokozeit und wird zu den bedeutendsten Denkmälern dieser Epoche in Südbayern gezählt. Ein ganz bewusst sich davon abhebender Beitrag unserer Zeit ist der 2004 von Josef Sailstorfer aus drei Basaltblöcken zusammengesetzte Volksaltar und der aus dem gleichen Material geschaffene Ambo.

 

St. Rassokirche in Grafrath

Funktion der Kirche

Ursprünglich als Klosterkirche gegründet, blieb sie nach der Verlegung des Klosters zunächst nur in ihrer Funktion als Grabkapelle des Kirchenstifters erhalten. Im Lauf der Zeit entwickelte sie sich jedoch zu einer weitbekannten Wallfahrtskirche. Anziehungspunkt und auch optisch beherrschendes Element der Kirche war das Grab in der Mitte des Raumes. Dies änderte sich auch nicht wesentlich in der neu erbauten Barockkirche. Solange noch keine Kniebänke in der Kirche waren (bis 1783), fiel das Grab jedem Besucher als erstes in die Augen. Aber auch heute ist  die Grabstätte im Zentrum der Kirche nicht zu übersehen. Obwohl die Kirche jetzt Mittelpunktkirche des Pfarrverbandes Grafrath ist und in ihr in der Regel die Pfarrgottesdienste der Ortspfarrei Mariä Himmelfahrt Unteralting stattfinden, zeigen das unverrückbare Grab vor dem Volksaltar und der Hochaltar mit den Gebeinen des Mannes im Glasschrein, dass die Kirche nach wie vor eine Funktion hat, nämlich, Denkmal zu sein für den Kirchenstifter, den Volksheiligen und inzwischen auch für den Namensgeber der weltlichen Gemeinde Grafrath. Der Kirchenraum selber verfügt neben seiner bemerkenswerten künstlerischen Ausstattung über eine herausragende Akustik, die Konzerte jeglicher Art zu einem Erlebnis werden lassen.

(Ernst Meßmer)